ÖkonomieFragment

Source

Friedrich Nietzsche, 10 [17] (150) von 1887

Die Nothwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren1 Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen „Maschinerie“ der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus2-Überschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichniß für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort „Übermensch3“.

Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheiden¬heit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen – eine Art Stillstand im Niveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirthschafts-Gesammtverwaltung der Erde4, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner „angepaßten“ Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssigwerden aller dominirenden und commandirenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werthe darstellen. Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisierte Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung – der Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisierung der Menschheit5 eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann ...

Er braucht ebensosehr die Gegnerschaft der Menge, der „Nivellirten“, das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratism6 ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie thatsächlich bloß die Gesammt-Verringerung, Werth-Verringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile.

– Man sieht, was ich bekämpfe ist der ökonomische Optimismus7: wie als ob mit den wachsenden Unkosten Aller auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen müßte. Das Gegentheil scheint mir der Fall: die Unkosten Aller summiren sich zu einem Gesammt-Verlust8: der Mensch wird geringer: – so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß9 gedient hat. Ein wozu? Ein neues „Wozu?“ – das ist es, was die Menschheit nöthig hat10 ...

S.462-463

Traditioneller Ökonomie-Begriff (Effizienz), jedoch erfahren als Verbrauch des Seienden (Mensch) in seinem Sein (Menschheit).

Luxus: Ausbruch aus dem nur Seienden, Ausweg ins Sein. Bewegung und Gegebewegung beide auf der Ebene des Seins des Seienden, d.h. bei Nietzsche: des Werts.

Vgl. dazu die Erläuterung in Martin Heidegger, “Was heißt Denken?”.

Die “Globalisierung” erfahren in ihrer metaphysischen Herkunft, d.h. als eine Weltbewegung unter dem Gesetz des Nihilismus. Der Nihilismus wiederum trägt in sich die Notwendigkeit seiner Überwindung durch die Umwertung der Werte und die Herausformung des Übermenschen.

Machinale Ökonomie

Vgl. Heraklit, insbesondere Fr. 49 DK.

Ökonomischer Optimismus: Optimismus der Kontingenz ↗ , Orienteriung am rein Quantitativen, mechanisch Messbaren, wo der Sinn der Lebens-, d.h. Machtsteigerung verkümmert ist.

Die bloß quantitative, vom eigentlich Wertmäßigen losgelöste Steigerung geht einher mit einem Verbrauch der Menschheit des Menschen (s.o.).

Erfahrung der wachsenden Sinnlosigkeit ↗ .

Metaphysischer Nihilismus (“Gott ist tot”).

Commentaries

Key Concept

Kontingenz, Wirklichkeit, bloße Wirklichkeit, komparativ

"Das Wort leitet sich von lateinisch contingentia her, das wiederum auf contingere „berühren, zu- bzw. vorfallen“ zurückgeht. In der Sprache der Philosophie ist kontingent, was, ob als Wirkliches oder Mögliches, zufällig, d. h. nicht wesensnotwendig ist. Kontingenz meint folglich die Seinsweise der Zufälligkeit.

Von dieser philosophischen Bedeutung wird in der hier neu geprägten Bedeutung der Zug des Wesenlosen, gleichsam Nackt-Tatsächlichen aufgenommen. Kontingenz bezeichnet somit eine vom eigentlichen Sein und Wesen, kurz vom Sinn abgelöste Gegebenheit. In dieser Gegebenheit trifft Seiendes so auf die Erfahrung, dass sein Sinn dabei wegbleibt zugunsten der so oder so gestalteten blanken Tatsächlichkeit, d. h. als factum brutum. Entsprechend ist die Erfahrung auf das bloße Leben, das Denken auf das Rechnen eingeschränkt. Das Kontingente drängt an in einer Direktheit und Unmittelbarkeit, die dem Sinn, den etwas hat, keinen Raum lässt, und fordert zu einem unmittelbar reaktiven Umgang ohne vorherige Sinnerschließung und Maßzuweisung heraus.

Kontingenz ist der Bereich und Seinsbezug, darin sich der Mensch zunächst und zumeist befindet. Dass in diesem Bereich der Sinn dessen, was ist, verschlossen bleibt, bedeutet nicht, dass kein Sinn geschieht. Ist der Seinsbezug nicht eigens auf- und ins Sein des Menschen eingebrochen, kommt dem Kontingenten ein Sinn durch die Einordnung in einen bestimmten Bedeutungsrahmen zu. Sofern der Mensch aber in die Übernahme des Seinsbezugs versetzt, also geschichtlich ist, wandelt sich der Charakter der Kontingenz entsprechend dem geschichtlichen Sinn. Deshalb ist die Kontingenz des Griechentums, des Mittelalters, der Neuzeit hinsichtlich ihrer Gewalt und der Entschiedenheit ihres Ausschließlichkeitsanspruchs jeweils eine andere. Mit anderen Worten: im Bereich der Kontingenz ist alles ohne Ausnahme „kontingentiert“, doch das Wie, folglich die „Brechbarkeit“ der Kontingenz ist je eine andere. In der Vollendung der Neuzeit setzt sich in der Kontingenz der Sinn der unbedingten Machtsteigerung und Machbarkeit durch, die alle Zeit und allen Raum für sich will und jede andere Gegebenheit unbedingt ausschließt.

Die Kontingenz ist als Seinsweise des Seienden ein Weise des Seinsbezugs, darin dieser – ob ungeschichtlich oder geschichtlich – abgekehrt und unübernommen bleibt. Das Wissen der Kontingenz wandelt sich entsprechend dem Kontingenzcharakter, wobei es, unabhängig von seiner Wirkmächtigkeit, jedenfalls im Bereich der Kontingenz verbleibt, d. h. diese zum Ausgang und zum Ziel hat. Ein geschichtliches Kontingenzwissen ist das mit → FORMATEN operierende Wissen der (neuzeitlichen) Wissenschaft. "

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Wir denken noch nach.

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