Tugend Glück und Menschenwürde

Source

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft

[G]leichwohl ist [hier] die Tugend nur darum soviel wert1, weil sie soviel kostet, nicht weil sie etwas bringt. Die ganze Bewunderung und selbst Bestrebung zur Ähnlichkeit mit diesem Charakter beruht hier gänzlich auf der Reinigkeit des sittlichen Grundsatzes2, welche nur dadurch recht in die Augen fallend vorgestellt werden kann, daß man alles, was Menschen nur zur Glückseligkeit zählen mögen, von den Triebfedern der Handlung wegnimmt. Also muß die Sittlichkeit auf das menschliche Herz desto mehr Kraft haben, je reiner sie dargestellt wird3. Woraus denn folgt, daß, wenn das Gesetz der Sitten und das Bild der Heiligkeit und Tugend auf unsere Seele überall einigen Einfluß haben soll, sie diesen nur ausüben könne, als sie rein, unvermengt von Absichten auf sein Wohlbefinden als Triebfeder ans Herz gelegt wird, darum weil sie sich im Leiden4 am herrlichsten zeigt. Dasjenige aber, dessen Wegräumung die Wirkung einer bewegenden Kraft verstärkt, muß ein Hindernis gewesen sein. Folglich ist alle Beimischung von Triebfedern, die von eigener Glückseligkeit hergenommen werden, ein Hindernis, dem moralischen Gesetz Einfluß aufs menschliche Herz zu verschaffen.

A 278/279

Commentaries

1

Der ethische Entwurf des kantischen Denkens ist ein einzigartiger Versuch einer Bestimmung dessen, was Wert sei, außerhalb des Horizontes eines bloß komparativen ↗  Begriffs von Freiheit (KpV A 171), d.h. außerhalb der Möglichkeit von Mess- und Berechenbarkeit. Anders gesagt: das, was allein den Maßstab für jede echte Wertbestimmung abzugeben vermag, kann nicht im Vorstellungshorizont von faktisch vorhandenem Wirklichen seinen Ursprung haben.

To top
2

Die Reinigkeit des sittlichen Grundsatzes ist deshalb unabdingbar, weil Kant bereits in der Antinomienproblematik der Kritik der reinen Vernunft entdeckt hatte, dass eine Verweigerung metaphysischer Prinzipien nicht nur ursprüngliche Freiheit (die nicht allein eine Eigenschaft des Menschen ist, sondern vielmehr ein Grundzug der Welt und ihrer Erscheinungen als solcher und im Ganzen) aufhebt und damit die Möglichkeit einer maßgebenden sittlichen Ordnung menschlicher Gemeinschaft, sondern auch die Naturwissenschaft ihres einheitlichen Erfahrungsgrundes beraubt. In den verschiedenen Arten und Weisen des Gebrauchs der Vernunft klingt stets das Grundthema der kantischen Bestimmung des neuzeitlichen Denkens an: die Zusammengehörigkeit von Anschauung und Begriff. Für das Entstehen und die Entwicklung der rechnenden Wertökonomie Ende des 18. Jahrhunderts ist wiederum gerade die Verweigerung metaphysischer Prinzipien konstitutiv. Vgl. Robert Simon, Natur und Vernunft. Ethik und Ökonomie. Grundbegriffe bei Adam SmithS. 250-254.

To top
3

Der Ursprung der Sittlichkeit aus einem eigenständigen reinen Prinzip birgt die Notwendigkeit einer ebenso eigenständigen Gesetzmäßigkeit ihrer Erscheinung in sich. Während die Erscheinungswelt zunächst an die Gesetze der Mechanik und Naturkausalität gebunden ist und diese es sind, die durch die Erscheinungen entdeckt werden können, eröffnet die freie Gesetzmäßigkeit der Kunst im Schönen eine Möglichkeit der Erscheinung des Sittlichen. Zugleich liegt in der Erscheinung des Sittlichen allererst der Schlüssel, durch den der tiefere und eigentlich wahre Sinn ↗  der Natur erschließbar wird. Die Dichtung der sogenannten deutschen Klassik ebenso wie die der sogenannten Romantik geben von dieser Möglichkeit (oft in unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem Denken Kants) unzählige Beispiele. Vgl. die „eigene Schönheit“ der Ausübung der Tugend bei Stifter.

To top
4

Das moralische Gefühl wirkt nur als Schmerz auf das Begehrungsvermögen. „Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens, dadurch daß es allen unseren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann, und hier haben wir nun den ersten, vielleicht auch einzigen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältnis einer Erkenntnis (hier ist es einer reinen praktischen Vernunft) zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten.“ (KpV, A 129) Leiden und Schmerz ↗  lassen sich so als Phänomene verstehen, die nicht nur über bloße Empfindungsreize hinausgehen, sondern einen konstitutiven Grundzug im Ethos des Menschen bilden. Im Zusammenhang mit dem Dichterischen vgl. dazu u.a. Friedrich Schillers Abhandlung „Über die tragische Kunst.

Für das Verständnis von Schmerz im Basiswertschema ↗  „pleasure and pain“ vgl. die Gleichsetzung von Empfindungsreizen und moralischen Kategorien bei Adam Smith und William Stanley Jevons.

To top

Key Concept

Kontingenz, Wirklichkeit, bloße Wirklichkeit, komparativ

"Das Wort leitet sich von lateinisch contingentia her, das wiederum auf contingere „berühren, zu- bzw. vorfallen“ zurückgeht. In der Sprache der Philosophie ist kontingent, was, ob als Wirkliches oder Mögliches, zufällig, d. h. nicht wesensnotwendig ist. Kontingenz meint folglich die Seinsweise der Zufälligkeit.

Von dieser philosophischen Bedeutung wird in der hier neu geprägten Bedeutung der Zug des Wesenlosen, gleichsam Nackt-Tatsächlichen aufgenommen. Kontingenz bezeichnet somit eine vom eigentlichen Sein und Wesen, kurz vom Sinn abgelöste Gegebenheit. In dieser Gegebenheit trifft Seiendes so auf die Erfahrung, dass sein Sinn dabei wegbleibt zugunsten der so oder so gestalteten blanken Tatsächlichkeit, d. h. als factum brutum. Entsprechend ist die Erfahrung auf das bloße Leben, das Denken auf das Rechnen eingeschränkt. Das Kontingente drängt an in einer Direktheit und Unmittelbarkeit, die dem Sinn, den etwas hat, keinen Raum lässt, und fordert zu einem unmittelbar reaktiven Umgang ohne vorherige Sinnerschließung und Maßzuweisung heraus.

Kontingenz ist der Bereich und Seinsbezug, darin sich der Mensch zunächst und zumeist befindet. Dass in diesem Bereich der Sinn dessen, was ist, verschlossen bleibt, bedeutet nicht, dass kein Sinn geschieht. Ist der Seinsbezug nicht eigens auf- und ins Sein des Menschen eingebrochen, kommt dem Kontingenten ein Sinn durch die Einordnung in einen bestimmten Bedeutungsrahmen zu. Sofern der Mensch aber in die Übernahme des Seinsbezugs versetzt, also geschichtlich ist, wandelt sich der Charakter der Kontingenz entsprechend dem geschichtlichen Sinn. Deshalb ist die Kontingenz des Griechentums, des Mittelalters, der Neuzeit hinsichtlich ihrer Gewalt und der Entschiedenheit ihres Ausschließlichkeitsanspruchs jeweils eine andere. Mit anderen Worten: im Bereich der Kontingenz ist alles ohne Ausnahme „kontingentiert“, doch das Wie, folglich die „Brechbarkeit“ der Kontingenz ist je eine andere. In der Vollendung der Neuzeit setzt sich in der Kontingenz der Sinn der unbedingten Machtsteigerung und Machbarkeit durch, die alle Zeit und allen Raum für sich will und jede andere Gegebenheit unbedingt ausschließt.

Die Kontingenz ist als Seinsweise des Seienden ein Weise des Seinsbezugs, darin dieser – ob ungeschichtlich oder geschichtlich – abgekehrt und unübernommen bleibt. Das Wissen der Kontingenz wandelt sich entsprechend dem Kontingenzcharakter, wobei es, unabhängig von seiner Wirkmächtigkeit, jedenfalls im Bereich der Kontingenz verbleibt, d. h. diese zum Ausgang und zum Ziel hat. Ein geschichtliches Kontingenzwissen ist das mit → FORMATEN operierende Wissen der (neuzeitlichen) Wissenschaft. "

View all sources connected Kontingenz, Wirklichkeit, bloße Wirklichkeit, komparativ

To top

Schmerz

"Im Basiswertschema der Ökonomie „pleasure and pain“ ist Schmerz ein rein subjektiv empfundener Empfindungsreiz, der im Optimierungskalkül immer einen nutzenminimierenden Effekt hat.

Bei Immanuel Kant ist Schmerz der Grundzug des moralischen Gefühls und somit die einzige Instanz, die Sinnlichkeit und Denken vermittelt. "

View all sources connected Schmerz

To top

Sinn, ἄφιλος, sinnlos

Wir denken noch nach.

View all sources connected Sinn, ἄφιλος, sinnlos

To top

Wert, Basiswertschema

Dadurch, dass im Horizont der effektiven Gegenwart die Wirklichkeit – die Macht des Effektiven, the power of producing effects – aus der Beharrlichkeit im Besonderen des Seienden entbunden ist, anders gesagt, indem das Auszeichnende der Möglichkeit nicht eine eigenständige Qualität ist, ist Macht einzig das Ausmaß und der Umfang umsetzbarer Effekte, mit anderem Worten, sind sowohl das Mögliche als auch das Wirkliche immer und ausschließlich ein bestimmtes Machtquantum. Die Leitvorstellung der Wirklichkeit als Macht des Effektiven ernötigt diese rein quantitative Auffassung der Macht durch das Effektive. Um fortan die quantitative Vorstellung von Möglichkeit und Wirklichkeit gegenüber der metaphysischen abzugrenzen, bezeichnen wir Möglichkeit als Potential und Wirklichkeit als Effekt. Das übergeordnete Format wiederum, das die quantitative Erfassung der Potentiale und Effekte unterschiedslos gewährleistet, ist die Vorstellung Wert. Die Wirklichkeit erscheint als Wert. Werte beziehen sich auf Effekte. Weil es keinen eigenständigen und inneren Anhalt und Maßstab weder im Potential noch im Effekt gibt, bestimmt sich der Wert eines Dinges oder einer Sache notwendig und ausschließlich im Vergleich mit dem Ausmaß der Effekte an anderem Wirklichen. Sobald Wirkliches als Wert entdeckt ist, ist alles andere Wirkliche notwendigerweise und ausnahmslos in der selben Dimension als Vergleichswert festgesetzt.

View all sources connected Wert, Basiswertschema

To top